© GDKE/Rheinisches Landesmuseum Trier, Foto: Th. Zühmer

RAUM 2

Antike Körper

Bilder des Körpers in vier Werkgruppen:

  • Trierer Torsi in Großformaten an der zentralen Wand zusammen mit Fotos der Originale auf transparenten Textilbannern.
  • gegenüber 4 Bilder über Skulpturen des Museums Glyptothek München. (Torso Diadumenos, TC München S. 49, Sohn der Niobe S. 67, Angelehnter Satyr S. 83, Apoll von Tenea S. 25
  • 2 Bilder in analoger Malerei Öl/Lwd. aus dem Werkzyklus „Torso von Belvedere“
  • 2 Stahl-Stelen mit Malerei auf Karton im Durchgang zu Raum 3

Musik: Alisa Spilnik, Violine; Faris Badarni, elektronische Komposition

RAUM 2

Antike Nacktheit & Körpersprache

Torso als Rätsel – der Körper in Stücken

Das Fragment als Schwester der Phantasie



Deutung

Das autonome Bild, „das Bild erschlägt mich“:
Bilder leuchten selber und werden nicht von außen beleuchtet, das Bild fordert den Betrachter auf, die Torso-Figur in seiner Vorstellung zu ergänzen Die Stilmittel der Größe und der dominanten Senkrechten wirken beherrschend.


„...es erfordert mehr als nur einen Blick, es verlangt die Beteiligung des Betrachters… Zum Schönheitsideal wird die Vollkommenheit des Fragments.
Der Torso ist eine Form, die eine Quelle der Suggestionskraft ist, da sie den Betrachter zwingt, in ihr das, was ihr fehlt, selbst zu finden.“
(Rodin)



Die Vollkommenheit des Bruchstücks: Warum ist der Torso, dieses unvollständige Körperfragment so rätselhaft? So spannend? Warum idealisieren wir den Körper ohne Kopf, ohne flinke Beine und aktive Arme in einer Zeit, die doch den rastlos tätigen homo faber verehrt? Warum fasziniert das Unvollständige, das undeutlich Undeutbare und das Vage mehr als das Perfekte? Warum scheint uns die Ahnung faszinierender als die Gewissheit?

In den Torso-Bildern wird digitale Malerei besonders deutlich: es begegnet die Deutungs-Spekulation des „Torso“ der rätselhaften Virtuosität und spukhaften Unwirklichkeit digitaler graphischer Vorspiegelungen und ihrer virtuellen Realität.
Digitale Malerei wirkt hier als Verstärkung der spekulativen Rätselhaftigkeit des Bildmusters Torso.
Bild und Betrachter treten in Dialog.





Analoge und klassische Ölmalerei in diesem Ausstellungsraum steht der digitalen Malerei mit ihrer demonstrativen Ästhetik der Pixel-Oberfläche gegenüber. Die Malerei mit dem Computer kann ähnlich einem Synthesizer jede Technik der Malerei imitieren und miteinander kombinieren. Sie täuscht spontane Malerei vor, die physisch nicht möglich wäre.

Die Bilder des Belvedere Zyklus (2 Bilder Öl/Lwd.) zielen auf den schöpferischen Wahrnehmungsvorgang des Betrachters: Der Torso von Belvedere ist Symbol der Bildhauerkunst. Entstanden aus Rodins Verehrung wird das Fragment und der Torso zum Prinzip einer künstlerischen Vollkommenheit, die Rilke beschreibt. Das ruinenhaft versehrte Kunstwerk wird selbständiges Werk und zum Schönheitsideal. Rodin schuf beabsichtigt unvollständige Figuren. Unzählige Künstler arbeiteten über diesen Torso von Belvedere: Michelangelo, Delacroix, Carpeaux, Falconet, David, Hogarth…

Die verklärte Männlichkeit, der Athlet im Sportkult und der heute idealisierte sportliche Fitnesskörper stehen in gegensätzlicher Spannung zum verkrüppelten „Körper in Stücken“. Betont und zum Thema wird dagegen die Körpermitte, ein spirituelles Zentrum oder der Leibeskern. Damit steht modernes Körperbewusstsein in anscheinend gegensätzlicher Beziehung zum Torso, dieser prägenden Ikone der Kunst.

2 Werke sind Roland Barthes und Peter Sloterdijk gewidmet: „Fragmente einer Sprache der Liebe“ ist der Titel des Trierer Torso der Venus so wie auch der Titel des Buchs von Roland Barthes mit poetischen Annäherungen an das Thema der Liebe.

Peter Sloterdijk zitiert als Buchtitel den letzten Satz des Rilke-Sonetts. der auch als Bild-Titel in der Ausstellung wiederkehrt. Er beschreibt kulturkritisch das Ideal des Menschen mit „Vertikalspannung“ als den sich permanent neu erschaffenden Kreativen im Gegensatz zur „horizontalen Entspannung einer pandemischen Trivialisierung“ in unserer kulturellen Gegenwart. Die serielle Anordnung der senkrecht/vertikalen Torso-Figuren prägt die Wirkung des gesamten Ausstellungsraums. In der Komposition von Alisa Spilnik und Faris Badarney wird für diesen Raum ein eindrückliches musikalisches Zitat des Sonetts von Rilke gestaltet.

Du sollst Dein Leben ändern!

Der Torso hat Aufforderungscharakter, der in der letzten Zeile des Gedichts Archaischer Torso Apollos von R. M. Rilke zum Ausdruck kommt:

Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
In dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
Und flimmerte nicht so wie ein Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

Schirn Kunsthalle „Das Fragment“ Frankfurt 1990
Raimund Wünsche „Der Torso – Ruhm und Rätsel“ München 1998
Roland Barthes „Fragmente einer Sprache der Liebe“, Suhrkamp 2015
Peter Sloterdijk „Du musst dein Leben ändern“, Suhrkamp 2009
Archaischer Torso Apollos, Sonett, Rilke, Werke, I, S.557. Frankfurt 1965